Zuerst veröffentlicht im August 2013 bei motor.de.
Zwischen 350.000 und 400.000 Besucher verschlägt es Jahr für Jahr nach Budapest, um auf dem Sziget Festival knapp eine Woche lang durchzufeiern. Nach der zehnstündigen Zugfahrt war ich deshalb durchaus gespannt, was mich dort erwartet. Bereits am „Tag -1“ stellte ich fest: Es wird heiß. Und zwar sehr.
Tag -1
Mitten in der Nacht durch europäische Großstädte zu tigern – da kann ich mir weißgott besseres vorstellen. Zum Glück bin ich nicht der einzige, der in dieser schwülwarmen Montagnacht durch Budapest stromert, um sich auf dem Weg zur Donauinsel Obudai zu machen. Nach einer knappen Stunde stehe ich vor der Brücke, dem einzigen Zugang zum Gelände vom Sziget Festival, der selbsternannten “Island Of Freedom“. Die schlimmen Erwartungen von einem riesigen, überfüllten Areal zerschlagen sich bereits bei der Ankunft auf einem der unzähligen liebevoll beleuchteten Campingplätzen.
Meine Mitcamperin hat das Treiben auf der Insel bereits seit dem späten Nachmittag beobachtet und bewertet es als „wahnsinnig unprätentiös“. Bedeutet so viel wie: Alle besoffen. Ballermannmusik wohin man hört. Uff. Inständig hoffe ich, die nächsten Tage mit Menschen in Berührung zu kommen, die Wert auf den musikalischen Faktor des Festivals legen. Noch ist Hoffnung vorhanden, schließlich beginnt das offizielle Programm erst am Mittwoch.
Tag 0
Die Hitze brüllt einen schon zeitig aus dem Zelt. Gesegnet sei, wer sich ein Schattenplätzchen sichern kann. Zum Glück haben die Veranstalter in weiser Voraussicht einen Teil des Inselstrands zum Baden freigegeben. Das erste Mal in der über zwanzigjährigen Festivalgeschichte…besser spät als nie.
Tagsüber bleibt genug Zeit, um die Insel zu erkunden. Schnell wird klar, dass das Festival nicht nur auf Musik ausgerichtet ist. Das Sziget Festival ist eher ein riesiger Freizeitpark: Halli-Galli-Attraktionen wie Riesenrad oder Bungeejumping haben sich ja schon auf so manchem deutschen Festival etabliert. Doch wo sonst gibt es noch die Möglichkeit zum Watersliden, Beachvolleyball und Bullenreiten? Oder wie wär’s mit ein paar morgendlichen Klimmzügen? Neben den unzähligen Möglichkeiten, sich aktiv zu betätigen, gibt es Theater, Kino, Kunstausstellungen und – unübersehbar – eine Bar neben der anderen für das gepflegte Besäufnis.
Das musikalische Programm läuft langsam an. Heute kommt vorwiegend das ungarische Publikum auf seine Kosten. Während tagsüber wegen der Hitze beinahe gar nichts geht, schaffen es die Local Heroes von Quimby Csodaországban die einheimischen Besucher in Wallung zu bringen. Der Rest spart sich die Kräfte für die kommenden fünf Tage.
Tag 1
Der Blick in den Wetterbericht lässt auf Stress schließen: Die Hitze soll die ganze Woche über weiterdrücken. Schön zu sehen, dass sich die Organisatoren einiges einfallen lasen haben, um diesen Umstand so erträglich wie möglich zu machen. Vom Gemüsehändler über den Müllmann bis hin zu den Securities – überall sind die Mitarbeiter mit Wasserpistolen, Schläuchen und ähnlichem bewaffnet, um den Besuchern eine hydrierte zeit zu bescheren. Auch an der Vielzahl von Trinkwasserstellen können sich einige deutsche Festivals eine dicke Scheibe abschneiden.
Am zeitigen Nachmittag dann der erste Gig: Hoffmaestro geben sich im überdimensionierten A38-Zelt die Ehre. Die Schwedischen Skapunker sind nicht müde zu betonen, dass heute wohl der heißeste Tag des Jahres in Europa sei. Dennoch scheuchen sie das Publikum in bewährter Manier von links nach rechts, animieren selbst die hinterste Ecke zum springen und sorgen somit für eine mehr als würdige Eröffnung des Festivals. Everything Everything, die im Anschluss ihren feinfühligen Indie-Pop zum Besten geben, können sich dahinter nur verstecken. Der Funke will an diesem Nachmittag nicht überspringen.
Besonders die deutschen Besucher bekommen heute mit den Ärzten und Deichkind gleich zwei Acts geboten, die man in heimischen Gefilden nicht zu Gesicht bekommt, ohne sich Stunden zuvor durch Heerscharen von Groupies kämpfen zu müssen. Überhaupt sehr überraschend, wie wenig Deutsche auf dem Festival sind – Mitarbeiter munkeln von 2000. Sowohl die Hamburger Remmi-Demmi-Spezialisten als auch die Berliner Pop-Punker hatten ihr Publikum jedoch vollständig im Griff und versuchten nicht einmal mit englischen Ansagen einen auf international zu machen. Zwei absolut solide Gigs und besonders angenehm für jene Leute, die diese Bands noch nicht zu Gesicht bekommen haben.
Tag 2
Der offizielle Tag zwei ist schon mein vierter Tag. Langsam verschwimmt ein bisschen das Zeitempfinden in diesem Mikrokosmos namens Sziget. Den Nachmittag leiten Ska-P auf der Main Stage ein. Ska und Sonnenschein sind immer eine gute Kombination. Das denken sich auch die zahlreich erschienenen verschwitzten Skanker, die der Band aus der Hand fressen. Apropos verschwitzt: Vielleicht war es keine so gute Wahl, die Dubstep-Hype-Sensation Nero in einer Indoor-Location spielen zu lassen. Nicht besonders angenehm, inmitten hunderter nackt-triefender Oberkörper durch das Zelt zu flutschen. Nichtsdestotrotz haben die beiden Briten mit ihrer enorm druckvollen Show bewiesen, dass der Hype mehr als gerechtfertigt ist.
Die A38-Bühne beginnt sich im Laufe dieses Tages zu meiner Lieblings-Location zu entwickeln. Obwohl hier Indoor gefeiert wird, passen locker 10.000 Menschen in das Zelt. Und auf welchem Festival kann man am selben Tag auf der selben Bühne feinfühligen Folk á la Dry The River, bombastischen Pop von Woodkid und anspruchsvollen Techno von Marcel Dettmann genießen?
Zu fortgeschrittener Stunde wage ich mich erstmalig in die MasterCard Balaton Sound presents: Party Arena (Oder kurz: Party Arena), um mir das DJ-Programm zu gönnen. Was von außerhalb bereits auf Unheil schließen ließ, bestätigt sich innen doppelt und dreifach. Stumpfe Beats, bunte Laser. Und alles zum Quadrat. Was zum Henker an Chuckie so toll sein soll, wissen wohl nur die zahlreich erschienenen Teens aus Holland, die ihren Rausch von Montagnacht mittlerweile wohl wieder ausgeschlafen haben. Ich ergreife die Flucht.
Tag 3
Endlich finde ich mal Zeit, um die kleineren Bühnen zu erkunden. Insgesamt sind es wohl so zwischen 20 und 50. Dabei ist für jeden Geschmack etwas dabei: Selbst kleine ukrainische Folklorebands oder traditionelle Irish Folk-Kapellen werden vom Publikum begutachtet und gebührend abgefeiert. Es gibt sie auf diesem Eiland also doch, die Musik-Connaisseure.
Auf dem Weg vorbei an der Mainstage fliegen mir plötzlich hunderte riesige blaue Bälle um die Ohren. Ein Blick ins Programmheft verrät: Beachball-Party. Einer von vier Flashmobs, die täglich vor dem Co-Head statt finden und mal mehr, mal weniger zünden. In diesem Fall hat sich jeder zweite kurzerhand einen Beachball geschnappt und ist damit kurzerhand zum Camp gerannt. Wofür die Bälle ursprünglich vorgesehen waren, weiß ich bis heute nicht.
Später am Abend dann die bitterste Überschneidung des Festivals: Seeed vs. Booka Shade vs. Calexico. Ich entscheide mich für Booka Shade, dessen Gig sich jedoch kurzfristig um eine Stunde nach hinten verschiebt. Naja, immerhin erleichtert mir das die weitere Auswahl. Also vorbei an Seeed, den staubigen Rock von Calexico inhaliert. Passt in der Hitze der Dämmerung einfach perfekt.
Auf der Main Stage erwartet mich ein heißersehnter Act: Blur! Bis in die hintersten Reihen werden die Britpop-Legenden gefeiert, dass Publikum ist durchgehend textsicher und spätestens beim Finalen „Song 2“ ist auch die letzte Schnarchnase auf den Beinen. Dieser Gig sollte selbst den härtesten Oasis-Fan zum Umdenken gebracht haben.
Nachts noch ein zweiter Versuch in der Party Arena: Wieder Fehlanzeige. Wieder stumpfe Trancebeats und Laser, die den fehlenden Anspruch der Musik von Sebastian Ingrosso zu überdecken wissen. Bis zum Gig von Boys Noize am Sonntag werde ich mich hier wohl nicht mehr hineinwagen.
Tag 4
Als wir am Abend die russische Ska-Punk-Band Leningrad auf der OTP Bank World Music Party Main Stage (Die Bühnennamen sind echt der Hammer!) herumwüten sehen, fragen wir uns, wieso wir dieses gar nicht so kleine Kleinod nicht öfter aufgesucht haben. Mit den idyllischen Hügeln drumherum zählt diese Location wohl zu den schönsten der Insel. Auch Leningrad waren bombig und seien jedem Freund zackigen Ska-Punks ans Herz gelegt.
Mit dem Holi-Fest gibt es an diesem Tag einen Flashmob vor der Main Stage, der viele Schaulustige anlockt. Auch hier läuft die geplante Action ein wenig aus dem Ruder und der reichlich nervige Animateur hat seine liebe Not, den Countdown herunterzuzählen, während die Menge schon tausende von Farbbeutel durch die Gegend wirft. Schön anzusehen ist die Chose jedoch allemal. Gegen Abend hin wirft das Programm indes einige Fragezeichen auf: Während die Editors live immer eine sichere Bank sind und deshalb zurecht ihr Stelldichein auf der größten Bühne geben, frage ich mich, was die Veranstalter geritten hat, Mika im Anschluss als Headliner aufzustellen.
Dass täglich 60.000 bis 70.000 Gäste auf dem Sziget Festival unterwegs sind, merkt man am heutigen Abend das erste Mal. Vor der A38-Stage staut sich die Menge vor dem Gig von Parov Stelar. Zu viele wollen die furiose Live-Show der österreichischen Elektroswing-Sensation miterleben. Erstmalig heißt es: Einlassstopp! Kein Wunder, bieten doch Gesaffelstein und Noisia im Anschluss daran die perfekte Dreierkombination, um die ganze Nacht durchzutanzen.
Tag 5
Nachmittags steht mit Rubik ein persönliches Highlight auf meinem Plan. Dummerweise wusste die Band kaum jemand wertzuschätzen, sodass sie sich in einem beinahe leeren Zelt mit unmenschlich schlechtem Sound durch ihr Set quälen mussten.
Am Abend fällt die Entscheidung nicht sonderlich schwer: Parallel zu David Guetta, der mit allerlei Laser, Feuerwerk und sonstigem Geflirr die Main-Stage ein letztes Mal zum beben bringt, servieren Tame Impala aus Australien feinsten Psychedelic Rock. Das Publikum als „aus dem Häuschen“ zu beschreiben, wäre hier noch maßlos untertrieben. Von allen Himmelsrichtungen kommen die Fans crowdgesurft, Rollstullfahrer inklusive. Dass das Publikum am finalen Tag noch mal richtig einen drauf machen wollte, bekam man schon wenige Stunden zuvor beim Gig von Franz Ferdinand mit. Die neue Songs wie „Right Action“ oder „Evil Eye“ fügen sich superb in die Setlist ein, zünden live aus dem Stand heraus und machen mächtig Laune auf das neue Album.
Ein drittes und letztes mal gebe ich der Party Area des Nachts noch eine Chance. Dieses Mal allerdings aus gutem Grund: Boys Noize soll für dieses Festival mein Abschluss sein. Erstmals gab es auch hier die herbeigesehnte Extase. Herr Ridha versohlte dem Feiervolk noch einmal richtig den Hintern mit seinem Live-Set, das bereits auf der Alterna-Stage von Rock am Ring hervorragend zündete.
Ein letztes Mal krabbel ich halbtot ins Zelt. Dabei wird mir bewusst, dass ich eine Vielzahl der über 50 Örtlichkeiten entweder nicht besucht habe, oder noch nicht einmal vorbei gelaufen bin. Jahrmarkt, Tarot-Labyrinth, Zirkus…alles nicht gesehen. Vielleicht beim nächsten Mal. Erst einmal sollte ich mir überlegen, wie ich wieder nach Hause komme. Im ganzen Trubel hab ich nämlich völlig verschwitzt, mich um die Rückfahrt zu kümmern. Das kann nur ein gutes Zeichen sein.
Weitere Festivalberichte aus der Ferne:
- Colours of Ostrava 2016 (Tschechien)
- NOS Alive 2016 (Portugal)
- Vive Latino 2017 (México)
[…] (Astra, 19.11.) (Setlist) 02. FIDLAR in Hamburg (Übel & Gefährlich, 14.02.) 03. Tame Impala (Sziget Festival, 11.08.) (Setlist) 04. Andhim (Melt! Festival 21.07.) 05. Chuckamuck in Hamburg (Molotow, […]
[…] Berlin Festival, NOS Alive oder Sziget – Festivals mitten in der Stadt sind eine willkommene Abwechslung zu Acker und Staub. Das […]