Bei den über 800 Programmpunkten des Reeperbahn Festivals ist es zwar zu erwarten, aber dennoch möchte ich schon zu Beginn dieses Beitrags vermelden sagen: In diesem Jahr gab es für mich hier so viel spannende Acts zu erleben wie noch nie zuvor.
Wenn der Spätsommer allmählich dem Herbst die Bühne überlässt und die Festivalzelte wieder in den Tiefen von Kellern und Dachböden verschwinden, erwacht auf der Reeperbahn noch einmal das Herz der Popkultur. Jedes Jahr im September wird Hamburgs berühmteste Meile zum Schmelztiegel für Musikfans und Branchenprofis. Menschenmengen füllen dann die Clubs, Bars, Keller und Kneipen, stets auf der Suche nach dem next big thing. Hunderte aufstrebende Bands und Künstler nutzen diese Gelegenheit, um sich live zu beweisen und ihren Platz auf den Bühnen der kommenden Festivalsaison zu erobern.
Die schiere Menge an bestätigten Künstlern und Künstlerinnen ist jedes Jahr aufs Neue so überwältigend, dass es einer gehörigen Portion Glück bedarf, die richtigen Acts zu erwischen. Niemand möchte schließlich erfahren, dass die nächste große Entdeckung ausgerechnet dann auftrat, als man selbst eine Band für „okay“ befunden und nach nur einem Song die Segel gestrichen hat, um zur nächsten Location zu wandeln. Glücklicherweise blieben mir solche Momente in diesem Jahr erspart – keine meiner Entscheidungen habe ich bereut, und die meisten Auftritte werden mir noch lange in Erinnerung bleiben. Einige meiner persönlichen Favoriten möchte ich an dieser Stelle näher beleuchten.
1. Ão (St. Pauli Kirche / Kaiserkeller)
Kein Reeperbahn Festival ohne mindestens ein Kirchenkonzert. In diesem Jahr sorgten Ão für einen fantastischen Einstand am Mittwochabend in der wunderschönen St. Pauli Kirche. Leidenschaftlich vorgetragene Musik in einer Schnittmenge aus portugiesischem Fado, Indie und Electronica, die in dieser Location ihre sphärische Wirkung besonders entfaltete. Dieser Auftritt ging so unter die Haut, dass ich mir die Band am nächsten Tag gleich noch einmal im Kaiserkeller angeschaut habe. Zwar war im Publikum leider deutlich weniger los, dafür konnte man näher an der Band sein. Und tanzbarer war’s auch!
2. AFAR (Prinzenbar)
Schön. Endlich wieder Konzerte in der Prinzenbar. Und dann auch noch sooo gute! Die Berliner Downtempo-Frickler von AFAR sind im Grunde genommen keine Neuentdeckung für mich, da ich sie auf dem diesjährigen Appletree Garden Festival schon genießen dürfte. Dort sind sie kurzfristig als Ersatz für Lucie Antunes eingesprungen. Die Trauer über den Ausfall verflog nach den ersten Takten ihres traumgleichen Elektro-Sets, das von einer Gitarre unterstützt und von hochatmosphärischem Gesang getragen wurde. Genau so gestaltete sich auch ihr Auftritt in der rappelvollen Prinzenbar, der aufgrund der starken Visuals noch ungleich intensiver ausfiel. Absolute Wucht, die beiden!
3. Nathalie Froehlich (Prinzenbar)
Wir bleiben direkt bei den Prinzenbar-Highlights. Nathalie Froehlich mag wie eine Kinderlieder-Sängerin klingen, sie ist aber genau das Gegenteil: In stakkarto-artigen Rap-Salven feuert sie, unterstützt von überschäumenden Techno-Beats einen aggressiv bouncenden Track nach dem anderen ab, und hat das Publikum schon nach kurzer Zeit komplett in ihrer Hand. Die beiden Tänzerinnen taten ihr Übriges, um den Raum vor der Bühne in einen Hexenkessel zu verwandeln, in dem kein Fuß mehr still stehen konnte.
4. Σtella (Mojo)
Ähnlich wie bei AFAR bin ich auch bei Σtella in diesem Jahr schon in den Live-Genuss gekommen. Nachdem ich das 2022-er Album Up and Away hoch und runter gehört habe, freute ich mich in diesem Jahr extrem, als ich die griechische Psych-Pop Band erstmals bei strahlendem Sonnenschein auf dem Immergut Festival erleben konnte. Dass sie sich auch extrem gut im Club machten, bewiesen sie mit diesem wunderbaren Late-Night-Abschluss im Mojo. Groovig, tanzbar, schwelgend – und mit extrem sympathischen Menschen auf der Bühne.
5. Zaho de Sagazan (Gruenspan)
Die französische Sängerin ist in dieser Aufzählung wohl der bekannteste Act. Nachdem sie im letzten Jahr noch im wesentlich kleineren Nochtspeicher gespielt hat, war das wesentlich größere Gruenspan in diesem Jahr bereits richtig gut gefüllt. Zurecht: Zaho de Sagazan wird oft als eine der aufregenden neuen Stimmen der französischen Musikszene gesehen, weil ihre Musik elektronische Klänge mit der Intensität des Chansons verbindet. Das ist hypnotisch, eingängig und geht vor allen Dingen tief unter die Haut. Und Ihre Tourdaten für das nächstes lassen erahnen: Diese Künstlerin ist gekommen, um zu bleiben.
6. CUT_ (headCRASH)
Über CUT_ bin ich eher zufällig gestolpert, als ich mich kurz vor Festivalbeginn noch durch ein paar Acts gehört habe. Als ob mein Timetable nicht schon voll genug wäre… Bei den düster-elektronischen Beats der niederländischen Band bin ich jedoch kleben geblieben. Live hat mich das Gespann dann komplett überzeugt. Hypnotische Performance, drei Kostümwechsel, treibende Songs…diese Band zieht mit ihrer Präsenz alle in ihren Bann und ist definitiv bereit für die größeren Bühnen. Gerne wieder im kommenden Sommer!
7. Bodega (Knust)
Das Knust ist für mich normalerweise immer etwas zu weit entfernt von der Reeperbahn, als dass ich mich zu den dortigen Konzerten bemühe. Für Bodega habe ich allerdings eine Ausnahme gemacht. Hat sich gelohnt! Versierten Schrammelrock/Indie-Punk bekommt man ja mittlerweile nur noch selten zu hören, aber dieser versprüht gleichzeitig coole Slackerness und durchdachte Melodien, sodass man gar nicht anders kann, als anfangen zu tanzen. Macht hochgradig süchtig! Bleibt zu hoffen, dass sich das New Yorker Quintett im nächsten Jahr erneut auf den Weg nach Europa macht.
8. Endless Wellness (Molotow Club)
Ach, das Molotow. Ein letztes Mal wurden Konzerte des Reeperbahn Festivals in der alten Location am Nobistor ausgetragen, bevor es Ende 2024 in die Räumlichkeiten des Moondoos umziehen muss. Der Gig von Endless Wellness gehörte dabei zu den Höhepunkten des Festivals, brachten die Wiener Friends nicht nur Weltschmerz, Witz und düstere Poesie in Einklang, sondern sorgten mit ihrem elegischem Fuzz-Folk und einer wunderbaren Bühnenpräsenz für eine kollektive Ekstase im Publikum. Unbedingt auf dem Schirm behalten!
9. Dolores Forever (Molotow SkyBar)
Das letzte Konzert des Festivals war noch mal eine riesige Überraschung. Nachdem ich mich im voraus nur rudimentär mit der Band beschäftigt habe, war ich umso entzückter, als ich mich in der jauchzenden Meute wiederfand, die von Dolores Forever mit jedem Song aufs Neue zum Durchdrehen animiert wurde. Eingängige Melodien, scharfsinnige Lyrics, gefühlvolle Indie-Klänge – all das beherrschen Dolores Forever exzellent!
10. Bolis Pupul (Mojo)
Schade: Bei diesem Gig dürfte man keine Bilder machen. Toll: Niemand hat bei diesem Gig Bilder gemacht. Der Mojo Club war die ideale Umgebung für den teils verträumt, teils tanzbaren Elektro von Bolis Pupul, der mit seinem Album Letter to Yu für mich eines der Alben des Jahres herausgebracht hat. Wie sehr habe ich mich darauf gefreut und wie sehr wurden meine Erwartungen übertroffen! Tanzen vom ersten bis zum letzten Takt, glasklarer Sound im Mojo und eine wunderbare Lichtshow machten dieses Konzert zu einem der Highlights auf dem diesjährigen Reeperbahn Festival.
Zum Schluss bleibt mir nur zu sagen: Danke, Reeperbahn Festival, für ein wunderbares langes Wochenende voller fabelhaften Entdeckungen!
Hier gibt’s noch noch ein paar weitere Bilder: