Ob Berlin Festival, NOS Alive oder Sziget – Festivals mitten in der Stadt sind eine willkommene Abwechslung zu Acker und Staub. Das Colours of Ostrava im Osten von Tschechien fügt sich in diese Reihe nahtlos ein und setzt ganz nebenbei Maßstäbe in Sachen Line Up, Preis/Leistungsverhältnis und Atmosphäre.
Festivals im Ausland sind ja immer etwas Aufregendes. Beim Colours of Ostrava wurde sogar schon vor der Ankunft reichlich Adrenalin verschossen: Da das Gelände in der Nähe eines abenteuerlichen Straßenknotens liegt, gestaltete sich die Suche nach dem Haupteingang als reichlich verwirrend. Dass inmitten von massigen LKW, emsigen Berufspendlern und zu Fuß (!) umherirrenden Festivalisten nicht alle paar Minuten ein Unfall passierte, grenzte an ein Wunder. Immerhin konnte ich während meiner ca. einstündigen Irrfahrt den spröden Industrie-Charme der ost-tschechischen Arbeiterstadt Ostrava aufsaugen.
Das Festival stellt zwei Campingplätze zur Verfügung. Während sich der erste direkt gegenüber des Festivalgeländes befindet, ist der zweite ca. zwei bis drei Kilometer entfernt. Da ich zum Zeitpunkt der Buchung spät dran war, gab es nur noch Plätze für den zweiten, der sehr idyllisch am Fuße eines alten Schlosses liegt. Gewöhnungsbedürftig allerdings, dass man für Zelt, Zeltbewohner und Parkplatz in Zeltnähe draufzahlen muss. Dafür ist der Service vor Ort herausragend: Neben kostenlosen Duschen stehen für den geneigten Camper Mikrowellen, Kühlschränke und sogar ein Wäscheservice zur Verfügung.
Gleich in den ersten Stunden nach Zeltaufbau spürt man, wie gesittet es hier überall zugeht. Tschechische Festivalgänger haben es wohl nicht so mit Rumgegröle, lauter Musik und dicker Hose. Schön!
Der Weg vom Campingplatz zum Festivalgelände ist gut zu bestreiten und führt durch einen riesigen, modernen Hypermarket. Wer also etwas zu Hause vergessen haben sollte, wird hier zu besten Preisen fündig 🙂
Schon während der ersten Schritte über das Gelände der ehemaligen Eisenhüttenwerke verschlug es mir die Sprache. An diesem dystopischen und verlassenen Ort tobt also für die nächsten vier Tage das Leben. Bis in die Neunziger Jahre hinein diente er unter anderem der Kohleförderung und Stahlveredelung. Mittlerweile sind die Werke ein nationales Kulturdenkmal. In unregelmäßigen Abständen werden hier auch Führungen angeboten. Grandiose Idee, in diesem Setting ein Festival hochzuziehen!
Schon am Donnerstag spielten mit TAME IMPALA und M83 die mitunter dicksten Fische des Line-Ups auf. Erstere schossen wie schon eine Woche zuvor in Portugal selbstbewusst mit Konfetti umher und groovten sich durch ihr hitbestücktes Set. M83 sorgten mit einer visuell aufregenden Show voller großer Rockstar-Gesten für ein erstes großes Highlight. Beide Shows waren zu keiner Sekunde langweilig und zeigten, zu welcher Größe sich diese Bands mittlerweile gespielt haben.
Das Publikum war für meinen Geschmack aber etwas zu sehr entspannt. Viele waren sich zu fein, das Tanzbein zu schwingen und spielten lieber stille Beobachter – selbst in den ersten Reihen. Trotzdem stand allen Beteiligten die Freude in die Gesichter geschrieben. Sowohl vor, als auch auf der Bühne.
Am Freitag bot sich tagsüber Zeit, um das riesige Gelände näher anzuschauen. Die Vielzahl von teils sehr offensiv platzierten Promoständen dämpfte die anfängliche Euphorie ein wenig. Zum Glück gibt es trotzdem noch mehr als genug Ecken, die nicht mit Sponsoren zugekleistert sind. Es war schön zu sehen, wie sich die Natur an jeder Ecke langsam aber sicher ihr Territorium zurück erobert. Betreten durfte man die Ruinen zwar nicht – ich wunderte mich aber so oder so, wie die alten Gemäuer und Schornsteine dem Bassdruck Stand halten konnten.
Die kurze Zeit, in der an diesem Wochenende die Sonne schien, habe ich genutzt, um den Bolt Tower zu erklimmen. Dieser Aussichtspunkt wurde auf einem ehemaligen Hochofen gebaut, ist mit 78 Metern der höchste Punkt Ostravas und bietet einen fantastischen Blick weit über das Festivalgelände hinaus. Allerdings ist er nur bedingt für Menschen mit Höhenangst geeignet 😉
Das eindrücklichste Erlebnis des Wochenendes war wohl der Gig von Antony Hegarty aka ANOHNI. Ein Auftritt, so intensiv, dass man sich danach wünscht, mit einem Kissen erstickt zu werden. So etwas hat Popkultur mal wieder nötig! Trotzdem mutig, dieser sehr düsteren Show den Headlinerposten zu geben.
Das befreiende Set von KIASMOS sorgte im Anschluss glücklicherweise für die dringend benötigten Endorphine. Später des Nachts ging der maskierte Held SLOW MAGIC, leider mit erheblicher Verspätung, an den Start. Das druckvolle Set, einschließlich Live-Getrommel im Publikum, ließ den Unmut jedoch schnell wieder vergessen. Fantastischer Act, der unbedingt mal wieder mehr von sich hören lassen sollte.
Am dritten Tag regnete es den ganzen Tag ohne Unterlass. So richtig schön konnte sich die kommunistisch angestrichene Arbeiterstadt unter diesen Umständen nicht präsentieren. Erst des Nachts riss die Techno-Orgie von BOYS NOIZE (endlich mal wieder ein Live-Set) und der Auftritt der Downbeat-Veteranen THIEVERY CORPORATION die Laune schlagartig nach oben. Und irgendwann nach Mitternacht hörte es dann sogar auf mit dem Regen. Zu dieser Zeit war aber das Hauptprogramm schon zu Ende, sodass die übrig gebliebenen trockenen Fußes in der Elektro-Stage zu ACTRESS, NATHAN FAKE und CHRISTIAN LÖFFLER stampften. Alle drei nur zu empfehlen!
Tag vier gehörte zu den trockensten Tagen des Wochenendes. Wenn man sich ein wenig an das Gelände gewöhnt hat (also nicht nur die Augen gen Himmel richtet 😉 ), fallen die Promostände überdeutlich auf. Jack Daniel’s-Disco, Camel-Oase und Captain Morgan-Hügel liegen extrem prominent und nehmen viel Platz weg, der kreativer hätte genutzt werden können. Aber was solls, es war Sonntag, die Sonne schien und alle liefen mit einem Lächeln durch die Gegend. Teenies, Rentner, Kinder, junge Pärchen mit Kinderwägen,….alle sind willkommen auf dem Colours und lassen sich diese Gelegenheit nicht nehmen, die Atmosphäre auf dem Gelände einzusaugen. UNDERWORLD bildeten dann den perfekten Abschluss eines rundum gelungenen Festivals, bei dem besonders die Alt-Raver leuchtende Augen bekamen.
Alles in allem ist das Colours ein Festival, das deutsche Veranstaltungen dieser Größe in vielen Sachen in den Schatten stellt. Die Besucher sind entspannt, die Preise und das Essensangebot unschlagbar (1,45 Euro für ein Bier, ca. 2 Euro für Essen), das Gelände wird regelmäßig sauber gehalten – und über allen thront ein Line Up, das alle Geschmäcker bedient. Vom Gelände habe ich ja bereits genug geschwärmt 😉 Eigentlich unfassbar, dass es noch nicht weit über die Grenzen Tschechiens hinaus bekannt geworden ist. Aber vielleicht auch gut so. Denn so kann man das Festival durchaus noch als Geheimtipp abseits der internationalen Big Player Glastonbury, Roskilde und Co. bezeichnen.
Die Anfahrt zum Colours of Ostrava ist nicht gerade einfach – verwirrende Kreuzungen und ungenügende Ausschilderungen können für Verwirrung sorgen. Jedoch sind die freundlichen Bewohner der Stadt jederzeit bereit zu helfen, sofern sie des Englischen mächtig sind. Möchte man das Auto nicht mitten in die Stadt stellen, sollte man im Voraus über die offizielle Webseite die bereits erwähnte Parkberechtigung kaufen. Von Berlin aus ist man sportliche 5 Stunden mit dem Auto unterwegs.
Weitere Festivalberichte aus der Ferne:
- Sziget 2013 (Ungarn)
- NOS Alive 2016 (Portugal)
- Vive Latino 2017 (México)
[…] aus Ostrava, Prag und dem wundervollen Budapest. Zu den Blogeinträgen: Colours of Ostrava – Budapest […]
[…] Blogeinträgen mit weiteren Fotos geht’s hier: Hurricane Festival – NOS Alive – Colours of Ostrava – Appletree Garden – MS […]